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Wenn das Hirn brüchig wird...

Millionen Menschen weltweit leiden an der Alzheimer-Demenz – und es werden stetig mehr. Ihre Angst, das eigene Ich zu verlieren, ist groß, und so ruhen die Hoffnungen vieler Menschen auf Medizin und Forschung. Und damit auf jemandem wie Professor Dr. Mathias Jucker vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung.

„Ich denke, also bin ich.“ René Descartes, französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler, bezeichnete im 17. Jahrhundert Denken und körperliches Existieren als die zwei untrennbar verbundenen Hälften unseres Daseins. Dass diese einst als unteilbar gedachte Einheit sich dennoch schleichend auflösen und verloren gehen kann, wissen wir spätestens durch die Alzheimer-Erkrankung. Aktuell hat die Diagnose nichts von ihrem Schrecken verloren. Doch der Blick in die Wartehallen der Wissenschaft lässt hoffen. Schließlich lüften Forscher und Forscherinnen weltweit immer mehr Stellen des großen Schleiers, der über den vielen noch unbekannten Facetten des gefürchteten Vergessens hängt.


Einer von ihnen ist Mathias Jucker vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Tübinger Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen. Sein Thema sind die ganz frühen Veränderungen der Alzheimer-Demenz. „Wenn auf typische Weise sichtbar wird, wie Gedächtnisleistungen nachlassen oder das Orientierungsvermögen schwindet, hat das Gehirn schon fünfzehn bis zwanzig Jahre lang
bestimmte Veränderungsprozesse durchlaufen“, sagt Mathias Jucker, Ko-Direktor am Hertie-Institut. Diese frühen Augenblicke zu finden und sich den Ursprüngen der Erkrankung zu nähern: Das treibt ihn an. „Denn viel Wissen rund um jene Momente ist noch verborgen“, erklärt der Neurobiologe, der 2020 als bislang letzte von zahlreichen Auszeichnungen den renommierten Gertrud-Reemtsma-Stiftungspreis erhalten hat. „Wir müssen dringend mehr über die sehr frühen Phasen im Krankheitsverlauf wissen. Also bevor sich die ersten falsch gefalteten Eiweiße ablagern“, betont er. „Über jenen Moment, an dem klar ist: Dieser Mann oder jene Frau wird einmal an der Alzheimer-Demenz erkranken.“

Ein früher Biomarker für Alzheimer

Sensitive Biomarker können dazu entscheidend beitragen. Im Optimalfall liefern sie auch Fakten zum Verlauf der Erkrankung. Dank dem Engagement der Tübinger Forschenden verfügt die globale Alzheimer-Diagnostik mit dem Neurofilament light und dem passenden Nachweisverfahren über einen Marker, der bereits sehr frühe Phasen einer Alzheimer-Demenz erfasst. Neurofilamente stammen aus dem Innern der Nervenzellen. Sie sind Teile des Zellskeletts und verleihen ihm Form und Stabilität. Freigesetzt werden sie, wenn die Zellen zugrunde gehen. Die Relikte des Zellabbaus sind dann in der Gehirnflüssigkeit und in geringerer Konzentration auch im Blut nachweisbar – lange vor Auftreten der ersten Symptome.

„Der Weg zum neuen Biomarker tat sich auf, als wir uns entschlossen hatten, nicht mehr nur auf das Amyloidprotein als potenziell nützliches Nachweismolekül zu setzen“, erzählt Jucker, „sondern auf das Ende der Neurodegeneration zu schauen, auf den Tod der Nervenzellen. Dabei zeigte sich, dass die Neurofilamente im Nervenwasser und sogar im Blut lange vor dem Auftreten klinischer Symptome nachweisbar sind. Zudem korrespondierten die freigesetzten Mengen eng mit dem Verlauf der Erkrankung.“

Diese Ergebnisse lieferten Jucker und seinem Team den Impuls für die Entwicklung eines Bluttests, der die Menge der zellulären Filament-Abbauprodukte präzise erfasst. Dieser Test kann zweierlei: Er weist die Erkrankung sehr früh nach und über die langsam anschwellenden krankheitsspezifischen Prozesse im Körper auch das Stadium, in dem sie sich befindet. Ein weiterer Vorteil: Für den Nachweis muss keine Hirnflüssigkeit mehr entnommen werden.

Alzheimer kann dominant vererbt werden

Die Tübinger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben zudem präzisiert, wie zeitig vor dem Auftreten der ersten klinischen Symptome sich das Neurofilament light im Blut zeigt. Dazu nutzten sie die Daten und Proben von rund 400 Personen, die wegen bestimmter Veränderungen im Erbgut – es handelt sich um Mutationen in den drei Genen APP, PSEN1, PSEN2 – mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer Alzheimer-Demenz erkranken werden. Wer einen solchen dominant vererbten Gendefekt hat, gibt ihn im Schnitt an jedes zweite Kind weiter. Die ersten Symptome zeigen sich schon vor dem 60. Geburtstag.

Betroffene mit diesen eindeutig genetisch induzierten Varianten der Alzheimer-Erkrankung sind in dem internationalen Netzwerk DIAN (Dominantly Inherited Alzheimer Network) zusammengeschlossen. Das Netzwerk ist hierzulande eng mit dem Namen von Mathias Jucker verknüpft. Ziel einer seit 2012 laufenden Studie ist es, die genetisch induzierten Alzheimer-Störungen besser zu verstehen und daraus neue Therapien für alle Formen der Erkrankung abzuleiten. Schon jetzt erlauben genetische Analysen sowie regelmäßig durchgeführte körperliche und neuropsychologische Tests recht genaue Vorhersagen darüber, ob und wann jemand an dieser Form der Demenz erkranken wird.

„Im Kontakt mit den Betroffenen und ihren Familienmitgliedern wird deutlich, wie belastend das Wissen ist, an der erblichen Form von Alzheimer zu leiden“, erzählt Mathias Jucker. Das Risiko zu erkranken, schwebe oft wie ein Damoklesschwert über mehreren Generationen einer Familie – eine schwere Bürde, die alle Bereiche des Lebens erfasst. „Hinzu kommt, dass die Alzheimer-Erkrankung und überhaupt das Thema Demenz in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema ist. Das macht es schwer, innerhalb der Familien und erst recht mit anderen darüber zu sprechen“, betont Jucker. Er wirbt dafür, dass die Gesellschaft offener ist für die massiven emotionalen, psychischen und auch finanziellen Lasten, die die Betroffenen zu tragen haben.

Die Tübinger Forschenden haben mit der DIAN-Initiative in vielerlei Hinsicht Standards gesetzt. „Zum Gesamtkonzept gehört, dass wir in Deutschland jährliche Treffen für die Familien organisieren“, sagt Jucker. Das diene dem Kennenlernen und dem Austausch von Erfahrungen, Erlebnissen und Problemen. Vorträge zu rechtlichen oder sozialmedizinischen Fragen gäben den Betroffenen zudem wertvolle Informationen an die Hand. „Manche Besucherinnen und Besucher sind über die Jahre sogar gute Freunde geworden. Wir fühlen
uns wie eine große Familie“, sagt Jucker.

Seeds – die Aggregationskeime

Unterdessen bewegen sich die Forschenden um Mathias Jucker bei ihrer Suche nach den Indizien der frühesten Stadien des Vergessens auf der Zeitachse immer weiter Richtung Anfang. Mit dem Auftreten der Seeds haben sie die weitaus früheste Phase definiert, in der die Alzheimer-Erkrankung bereits in vollem Gang ist. Derzeit lassen sich jene Aggregationskeime allerdings nur über ihre Rolle als Auslöser für die fatale Kettenreaktion in Richtung Alzheimer-Plaques definieren – denn: Gesehen hat sie noch niemand.

Um sie zumindest indirekt nachzuweisen, testeten die Forschenden sechs Antikörper am Gehirngewebe sogenannter Alzheimer-Mäuse, noch bevor diese erste typische Proteinschäden zeigten. Einer der Antikörper – Aducanumab – schlug an. Er erkennt Proteinaggregate, nicht einzelne Beta-Amyloid-Eiweiße. „Die kurze, nur fünftägige Behandlung hat offensichtlich ausgereicht, die vorhandenen Aggregationskeime weitgehend zu beseitigen“, erläutert Jucker. „Da neue Keime erst langsam wieder entstehen, bilden sich in den Wochen und Monaten nach der Antikörper-Behandlung viel weniger Ablagerungen.“ Jucker und sein Team versuchen derzeit, die Seeds zu isolieren, um sie dann im nächsten Schritt besser zu charakterisieren. „Wir benötigen zudem weitere Antikörper, die verschiedene Typen von Aggregationskeimen erkennen und uns helfen, zu verstehen, wie sie die fatale Kettenreaktion auslösen und wie sich die Antikörper für eine Therapie einsetzen lassen“, wirft Jucker den Blick voraus.

Zumindest bei Mäusen definieren die neuen Erkenntnisse die Frühphase der Alzheimer-Demenz neu. Bislang galt die Phase mit Protein-Ablagerungen, aber ohne Demenz-Symptome als frühzeitig. Davor gibt es aber offensichtlich noch eine „frühe Frühphase“: eine Zeitspanne ohne Plaques und ohne Symptome. Damit legt die Arbeit der Forschenden nahe, dass eine an den Ursachen ansetzende Behandlung der Alzheimer-Demenz viel eher beginnen muss als bislang angenommen.

„Auch die Alternsforschung wird zunehmend wichtiger für unsere Gesellschaft werden – nicht nur, weil immer mehr Menschen über 100 Jahre alt werden“, sagt der ausgewiesene Neurobiologe, der seine ersten Schritte als junger Wissenschaftler in eben jenem Forschungsfeld gemacht hat und sich dorthin wieder zurückkehren sieht. Er hofft auf eine Gesellschaft, die sich wieder mehr für Wissenschaft und wissenschaftliche Kontexte interessiert – und dabei funkelt in seinen Augen die Faszination, wenn er beschreibt, wie grundlegend in den vergangenen Jahrzehnten die genetische und molekularbiologische Forschung das Verständnis von der Biologie des Alterns verändert hat. Und so ist Mathias Jucker zutiefst zuversichtlich, dass irgendwo in all diesen biologischen Regelungsprozessen ein Hebel liegt, mit dessen Hilfe man sich auch der Alzheimer-Demenz wirkungsvoll in den Weg stellen kann.

Beweis dafür, dass er mit seiner wissenschaftlichen Intuition und seinem Können, seiner Labor- wie Lebensphilosophie so falsch nicht liegen kann, sind nicht zuletzt die vielen Auszeichnungen, die ihm samt seinem Team in den vergangenen Jahren zugesprochen wurden. Er selbst führt das nicht zuletzt auf etwas ganz Wichtiges zurück: „Man muss sich in den entscheidenden Momenten im Leben immer auch Zeit oder eine Auszeit für das Denken nehmen. Und manchmal in gleicher Weise auch eine Auszeit vom Denken!“ Dafür steigt der passionierte Bergsteiger mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern regelmäßig zum Klettern und Wandern in die Berge.

Autor: Christian Jung

Bild 1 und 2: © HIH, Fotograf: Fabian Zapatka